Dienstag, Mai 31, 2005

31. Mai 2005

Wieder einmal wird ein Schwung Rezensionen zu Neuerscheinungen im Bereich Politik und Gesellschaft für das ef-Magazin fertig. Aktuell veröffentlicht wurden Biographien über Lothar Bisky, Kofi Annan, Stefan Aust und Ludwig Erhard, starke Worte von Lafontaine, schwache Worte von Rüttgers, ein Plädoyer wider die Verzagtheit der Republik und gleich zwei Resümees über den Kopftuchstreit. Auch diesmal möchte ich diejenigen Titel hier in meinem Blog vorstellen, die mir aus ganz unterschiedlichen Gründen am allerbesten gefallen haben:

Uwe Müller: Supergau Deutsche Einheit. Rowohlt 2005
Wer wegen des reißerischen Titels des Buches platten Alarmismus erwartet, wird angenehm überrascht. Uwe Müller stellt ausgesprochen sachlich und fundiert ein allzu gern verdrängtes, aber schwerwiegendes Problem dar: Obwohl den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung über 1 Billion Euro an Zuwendungen zuflossen, entwickeln sie sich zu einer einzigen riesigen Problemregion. Wirtschaftlich liegt sie darnieder, die Bevölkerung vergreist und verblödet durch die Abwanderung der Spitzenkräfte in den Westen, selbst heute ist kaum ein Ostdeutscher in höchsten Führungspositionen von Medien, Wirtschaft oder Justiz zu finden. Über die wahren Ausmaße des Debakels zu sprechen wird unter Westpolitkern aber als "unpatriotisch" unterbunden, stattdessen schwankt die ostdeutsche Bevölkerung zwischen verbitterten Massenprotesten und einer grundnaiven Verehrung jedes der beiden bisherigen deutschen Bundeskanzler als Heilsbringer. Wenn im Jahr 2008 die Ostsubventionen deutlich gekürzt werden, so Müller, wird auch der letzte Firniss eines wirtschaftlichen Aufbaus abblättern, und der Osten könnte den Westen mit in den Abgrund reißen. Abschließend gibt Müller ausführliche Ratschläge, um genau das zu verhindern: etwa dass der Osten gegenüber dem Westen nicht mehr Gleichheit, sondern mehr Freiheit brauche.

Irshad Manji: Der Aufbruch. Plädoyer für einen aufgeklärten Islam. Dtv 2005
Ein wirklich großartiges Buch: Die offen lesbische Muslimin Irshad Manji macht Schluss mit dem Irrglauben, dass man sich in Sachen Islam nur um ein Häuflein übergeschnappter Extremisten Sorgen machen müsste. Stattdessen enthüllt sie diese Religion als in weiten Teilen dringend reformbedürftig, dabei allerdings unfähig zur Selbstkritik und jeder Kritik von außen gegenüber ebenso wehleidig wie aggressiv, zutiefst frauenfeindlich und totalitär. Manji ermuntert ihre Glaubensbrüder und -schwestern zum Idschtihad (dem unabhängigen Denken) und fordert die Nichtmuslime auf, nicht länger aus törichter Multikultibesoffenheit heraus, "die moralische Stummtaste zu drücken, sobald Muslime den Mund aufmachen". Man weiß nicht, wofür man Manji mehr loben soll: Für ihrem sympathischen, lockeren Schreibstil bei diesem schwierigen Thema? Für ihre Leistung zu zeigen, dass selbst in unseren Tagen noch ein notwendiges feministisches Buch geschrieben werden kann? Dafür, dass sie Israel glaubhafter gegen gängige Vorwürfe zu verteidigen schafft, als es ein Dershowitz je könnte? Oder für ihren Mut, unerschrocken den Gewalt- und Morddrohungen standzuhalten, die auf ihre Wortmeldung unweigerlich folgen mussten? Wenn es eine Ruhmeshalle der wichtigsten liberalen DenkerInnen der Gegenwart gäbe, hätte Manji darin einen Ehrenplatz verdient.

Dieter Stein: Phantom "Neue Rechte". Edition JF 2005
Dieter Stein, Chefredakteur der konservativen Wochenzeitung "Junge Freiheit", vertritt im ersten Teil dieses Buches eine offenbar für manche gewagte These – nämlich dass in einer Demokratie die unterschiedlichsten politischen Auffassungen von links bis rechts vertreten werden dürfen und im politischen Wettstreit Meinung gegen Meinung gesetzt werden sollte, um die Menschen zu überzeugen. Das ist aber bekanntlich nicht, was aktuell geschieht. Stattdessen wurde von der politischen Linken der Stigmabegriff "Neue Rechte" geprägt, den man in Wendungen wie "Kampf gegen rechts" bewusst innerhalb des sehr breiten Spektrums zwischen konservativ und rechtsextrem changieren lässt. Rechts zu sein erscheint plötzlich als verdächtig, wenn nicht gar "böse". Eine komplette Hälfte des politischen Spektrums kann so ausgegrenzt, unter Beschuss gehalten oder zumindest unter Dauerverdacht gestellt werden.
Eine besonders fatale Rolle, so Stein, übe dabei der Verfassungsschutz im rot-grünen Nordrhein-Westfalen. Dieser beobachtet die Wochenzeitung "Junge Freiheit" seit inzwischen zehn Jahren und nennt als Begründung immer wieder Anhaltspunkte (!) für den Verdacht (!) auf rechtsextreme Bestrebungen. Seit zehn Jahren bleibt dieser Verdacht unkonkret in der Schwebe, seit zehn Jahren steht Nordrhein-Westfalen damit allein auf breiter Flur. Je weniger man findet, desto größer sei die Bedrohung, denn desto raffinierter seien die rechtsextremen Inhalte offenbar getarnt. Auch dass sich die "Junge Freiheit" in ihren Texten kaum von Zeitungen der politischen Mitte unterscheide, sei ja gerade das Entsetzliche, denn das zeige, wie erschreckend die Mitte schon vom Rechtsradikalsimus infiziert sei. Trotz der offensichtlichen Absurdität solcher "Argumente" reagieren etliche Publizisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, als handele es sich beim Verdikt des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes um einen Index der heiligen Inquisition und als dürfe dieser mit seinem Urteil darüber bestimmen, welche Zeitungen man lesen und welchen man ein Interview geben dürfe und welchen nicht. Wer immer sich für die "Junge Freiheit" einsetzt oder sich von ihr interviewen lässt, ob Egon Bahr (SPD), Peter Glotz (SPD), Peter Scholl-Latour oder etliche andere des Rechtsextremismus komplett unverdächtige Personen, jeder muss mit einer politischen Verfemung rechnen, sich rechtfertigen, wird seinerseits zum Skandal gemacht. Nur wenige urteilen so besonnen wie der FOCUS-Chef Helmut Markwort, der schlicht befand, der Verfassungsschutz NRW beobachte alles, was nicht auf dem linken Flügel der SPD beheimatet sei.
Mit einer Fülle von kundigen Zitaten enthüllt Stein, wie genau dieser Mechanismus der Ausgrenzung funktioniert, und es nimmt Wunder, dass sich aus der Linken nicht noch viel mehr Menschen für den Erhalt der Meinungsfreiheit einsetzen. Neunzig Prozent der Journalisten aber, so Stein, schwämmen brav opportunistisch im Strom der Masse und gerierten sich noch furchtbar aufgeklärt und mutig dabei.
Im zweiten Teil des Buches analysiert Stein genauer, woher der Begriff der "Neuen Rechten" kommt und wie sinnvoll er überhaupt sein kann. Dabei erläutert er, dass die gemeinte Ausrichtung entgegen gängigen Suggerierungen nichts mit Ausländer-Raus und schon gar nichts mit Neonazis zu tun habe, sondern dass ihre Ziele in der Hauptsache ein handlungsfähiges Kerneuropa, eine vertiefte deutsch-französische Freundschaft und die Gestaltung einer eigenständigen Außenpolitik seien.
Manchmal fehlt dem Buch ein wenig die Struktur. Dann beginnt es zu mäandern oder wiederholt bereits Gesagtes. Dem unbenommen bleibt es ein wichtiges Werk, denn es dreht sich um elementare Regeln der Meinungsfreiheit: auch solche Ansichten im Diskurs zuzulassen, die der eigenen Auffassung widersprechen.

Alfred C. Mierzejewski: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Siedler 2005
Am 9. November 1918 lagen zwei grundverschiedene Männer in einem Militärlazarett. Der leichter Verletzte hatte ein zutiefst pessimistisches Menschenbild, wurde zum Diktator und Massenmörder und verknüpfte den Namen Deutschlands für lange Zeit mit entsetzlichen Greueln. Der schwerer Verletzte ließ sich von den Nazis niemals einbinden, sein Menschenbild war höchst optimistisch und er gab Deutschland nach der Niederlage durch das „Wirtschaftswunder“ sein Selbstbewusstsein zurück. Über den einen wurde sehr viel geschrieben, über den anderen sehr wenig.
Besser als mit dieser Kontastierung von Hitler und Erhard kann man eine Wirtschaftsbiographie (falls es dieses Genre gibt) wohl kaum eröffnen. Mierzejewski zeichnet Erhard als einen unabhängigen Denker, der selbst in der NS-Zeit seine marktwirtschaftlichen, liberalen Überzeugungen nach außen vertrat. Er verschafft einen Überblick über Erhards Credo, das sich immer wieder um den Wert der Freiheit dreht: Je freier der Markt sei, desto sozialer sei er auch, weil er die Bedürfnisse der Menschen befriedige und ihren Lebensstandard hebe. Da Freiheit unteilbar sei, seien jegliche Eingriffe, ob vom Staat oder von Interessensgruppen, gefährlich und verwerflich. Garant für die Freiheit sei das Eigentum, das ein Mensch allerdings durch Sparen und nicht durch Beihilfe vom Staat erwerben solle. Die Freiheit von der Tyrannei kleinlicher Beamter gestatte dem Einzelnen ein Leben in Würde und Selbstachtung. Ein starker Staat indes sei deshalb vonnöten, damit die Menschen nicht von jenen in ihrer Freiheit beschnitten würden, die ihre eigene Freiheit missbrauchten. Das waren einige der Grundsteine, auf denen Erhard sein Wirtschaftswunder aufbaute – und mit denen er als Kanzler schließlich doch scheiterte.
Auch die Gründe dieses Scheiterns erläutert Mierzejewski ausführlich: Zum Teil erkennt er Mobbing und Intrigen durch andere CDU-Granden wie Adenauer, Strauß und Barzel als Ursachen. Auch die USA waren Deutschland zu Erhards Zeit nur begrenzt von Hilfe, Präsident Johnson ging gar so weit, den Kanzler, den er als eine Art Untertan sah, im Weißen Haus körperlich zu bedrohen. Aber mehr noch sieht Mierzejewski die Schuld bei der deutschen Bevölkerung. Diese war zum einen einen starken Führer gewohnt; eine Rolle, die Erhard nie spielen wollte. Zum anderen hatte sie Erhards wirtschaftliche Konzepte nie wirklich verstanden, sondern nur ob es ihnen selbst gerade gut ging oder nicht, und schon bei den kleinsten Anzeichen einer ökonomischen Verschlechterung (in diesem Fall ausgelöst durch Adenauers Günstlingswirtschaft, die Ausdehnung der Sozialleistungen und zahlreiche Wahlgeschenke der CDU an die verschiedensten Lobbys) verfielen Journalisten und Bürger in Krisenpanik, als ob ein neues 1929 drohe. So scheiterte Erhards Versuch, die Interessensgruppen zurückzudrängen und mit einer „formierten Gesellschaft“ dem Wähler mehr politische Mitwirkung zu verschaffen sowie staatsbürgerliche Tugenden zu entwickeln, die einer Zerrüttung der Moral durch den um sich greifenden Materialismus entgegenwirken sollten: „Die Masse der Menschen maß Wohlstand allein an materiellen Dingen, die politische Klasse hingegen war vollauf damit beschäftigt, sich im Machtkampf eine günstige Ausgangsposition zu verschaffen.“
Am 1. Dezember 1966 trat Ludwig Erhard zurück. Die Beschäftigung mit seinen Konzepten und den Widerständen dagegen könnten im Jahr 2005 aktueller und bedeutsamer sein denn je.