Donnerstag, März 24, 2011

"Kluft zwischen Ohnmacht und Machtzuschreibung"

Deniz Baspinar streift heute in ihrem brillanten Artikel in der "Zeit" die Verquickung der Themen Islamophobie und Geschlechterdebatte. Ein Auszug:

Die Diskussionen um Integration und Islam zeichnen sich leider oft durch Vorhersehbarkeit aus. In einschlägigen Talkrunden und Foren wird ein Stellungskrieg geführt: Wer den Islam nicht zur Ursache aller Missstände in der Einwanderungsgesellschaft erklärt, gilt entweder als verkappter Islamist, oder, fast noch schlimmer, als ein naiver Multikulti-Idealist. Zudem wird er oder sie schnell als Totengräber aller abendländischen Werte ausgemacht.

(...) Unter der Oberfläche könnte man aber eine Wirklichkeit erkennen, die von paradoxen und ambivalenten, manchmal sogar spannenden Verhältnissen gekennzeichnet ist. Fragt sich denn zum Beispiel beim Anblick betont dominant auftretender junger türkisch- oder arabischstämmiger Männer niemand, warum eine solche Demonstration der Macht notwendig ist, wenn diese in der Familienstruktur natürlicherweise gegeben wäre? Versuchen diese Männer nicht vielmehr, die Kluft zwischen erlebter Ohnmacht und Machtzuschreibung zu überspielen? Wer sich auskennt in türkischen Familienstrukturen, weiß um die weibliche Dominanz im familiären Gefüge. Aber wer das ohne Wertung anmerkt, wird unversehens als Verräter der Frauen-, ja der Menschenrechte verschrieen.

(...) Welche Formen das annehmen kann, wurde mir unter anderem nach einer Podiumsdiskussion zum Thema Frauen und Islam bewusst, an der ich teilnahm. Ich hatte dort über meine psychotherapeutische Arbeit mit türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten berichtet und dafür geworben, insbesondere das Geschlechterverhältnis differenzierter zu betrachten. Nach der Veranstaltung kam eine Gruppe älterer deutscher Damen auf mich zu, um mir nur eine Frage zu stellen: Ob ich denn überhaupt Türkisch spräche, die Therapien also in türkischer Sprache abhalten würde. Die Damen vermuteten, ich könne meine Patienten gar nicht richtig verstehen. Aus ihrer Sicht müssen meine Analysen einfach einem sprachlichen Missverständnis geschuldet sein. Anders war ihnen nicht erklärbar, warum ich das in ihren Augen Eindeutige und Naheliegende in Zweifel ziehe, nämlich, dass die türkische Frau in jeder Hinsicht unterdrückt werde.


Hier findet man den vollständigen Artikel. Fast überflüssig zu erwähnen, dass ich ihn für in Gänze lesenswert halte (schließlich dreht er sich um die beiden Kernthemen dieses Blogs). Wenn "Zeit" & Co. jetzt dasselbe Bestreben nach Differenziertheit in der Geschlechterdebatte einfordern könnten, solange es nicht um die Teilbereiche Islam und Integration geht ...

Eine Art Gegenposition nimmt heute übrigens Joumana Haddad in der "Welt" ein. Ihre Leitthese: "Islam und Feminismus sind unvereinbar" (Nein, ich trete trotzdem nicht über.)