"Das Medienopfersyndrom" (Rezension)
Gestern habe ich in diversen Internetforen meine Rezension zu Mario Gmürs neuestem Buch "Das Medienopfersyndrom" veröffentlicht. Da dieses Buch einige der Gründe beschreibt, weshalb ich bestimmte Bücher geschrieben habe ("Warum Hohmann geht und Friedman bleibt", "Der Fall Eva Herman "), stelle ich sie auch hier in mein Blog.
In seinem Buch "Das Medienopfersyndrom" (erschienen September 2007, nicht lieferbar von Amazon) umreißt der Psychotherapeut Mario Gmür – vielfach anhand von Beispielen aus seiner Praxis – die Befindlichkeit von Menschen, die aufgrund einer medialen Berichterstattung seelische Störungen ausgebildet haben. Zu diesen Störungen können beispielsweise Schlaflosigkeit gehören, Konzentrationsstörungen, Erschöpfungszustände, nervliche Beschwerden, soziophobe Ängste, Selbstmordgedanken, depressive Verstimmungen, Nachhallerinnerungen, zwanghafte Rachephantasien und das zwanghafte Bemühen, reale oder vermeintliche Vorurteile zu widerlegen. Bei der Nennung einiger dieser Symptome fühlt sich wohl mancher etwa an das Ende Jürgen W. Möllemanns erinnert, dem die Medien so lange massiv zusetzten, bis er tatsächlich Verhaltensauffälligkeiten entwickelte und Journalisten diese triumphierend als neue Belege dafür verwenden konnten, dass es sich bei Möllemann um einen "Quartalsirren" gehandelt habe.
Gmür unterscheidet zu Beginn seines Buches die vermeidbaren von den unvermeidbaren Medienopfern. Zur ersten Gruppe zählt er Menschen, die infolge einer "inakzeptablen publizistischen Aggressivität oder Fehlleistung" zu Schaden kamen, zur zweiten jene, die von einer unvermeidbaren Berichterstattung betroffen sind. Letzeres zeitigt Gmürs Ansicht nach weniger schwerwiegende Folgen: so wie ein kontrollierter chirurgischer Schnitt im Vergleich zu einem Unfalltrauma.
Gmür analysiert verschiedene Formen, wie mediale Gewalt gegen Einzelpersonen aussehen kann. Dazu gehören für ihn der Pranger ("ein Ventil für die Befriedigung von Schadenfreude, Sensationsgier, Missgunst und Sadismus"), die Überwachung, das Stigma und das Gerücht. Auf dieser Grundlage schlüsselt er die verschiedenen Kategorien von Medienopfern auf, etwa Paparazziopfer, Outingopfer, Ignorierungsopfer usw. Die Kategorie, die zum aktuellen Umgang der Medien mit Eva Herman wohl am besten passt, ist die des Tribunalisierungsopfers. Dazu führt Gmür aus: "Ausgelebt wird von den 'Richtern' die Lust an der Bewertung, an der Moralisierung, an der Verhandlung, an einer Eigenposition. Es handelt sich um eine erweiterte Stammtischgerichtsbarkeit, ein mediales Untersuchungs- und Gerichtsverfahren." Die Tribunalisierung "hat oft ihren Ursprung in einem Hinweis oder einem Gerücht, setzt sich dann fort mit Recherchen und Indiziensammlungen, geht über zur Befragung des Verdächtigen, mitunter in inquisitorischer Weise (...). Anschuldigung und mediale Verurteilung lassen gewöhnlich nicht lange auf sich warten. Nebenstrafen folgen schon sehr bald durch Kündigung der Arbeitsstelle (...) sowie durch Ausschluss aus Mitgliedschaften von Vereinen." Als Motive der Täter nennt Gmür unter anderem den Unterhaltungswert, das jedes Gerichtsverfahren bietet, politische Motive und die Befriedigung eines Moralisierungsbedürfnisses. Zu den Folgen für die Betroffenen heißt es: "Die Tribunalisierung führt bei den Opfern zu Ohnmachtsgefühlen, zur Entfesselung von Hetzkampagnen, Pogrom und Lynchjustiz, entfaltet eine Prangerwirkung, kommt einer Vorverurteilung gleich."
Gmür vergleicht die Opfer insbesondere von Medienkampagnen mit den Opfern von beruflichem Mobbing sowie mit den Opfern von lebensbedrohlichen Situationen (Überfälle, Unfälle, Geiselnahmen), die danach eine posttraumatische Belastungsstörung ausgebildet haben. Er nennt zu beiden Analogien aber auch klare Unterschiede: Während ein Mobbingopfer grundsätzlich den Arbeitsplatz wechseln könne, kann ein Medienopfer "die Öffentlichkeit nicht auswechseln. Es gibt für immer kein Entrinnen." Und an die Stelle der körperlichen Bedrohung bei Menschen, die in Lebensgefahr gerieten, tritt für Medienopfer die soziale Bedrohung und damit an die Stelle der Angst vor dem Tod die Angst vor der gesellschaftlichen Existenzvernichtung. Auch nach Abklingen der akuten Bedrohungslage (in Eva Hermans Fall z. B. die Kerner-Talkshow) bestehe bei Medienopfern eine fortgesetzte reale und nicht nur in der Erinnerung fixierte Bedrohung. Gmür: "Diese ist eine Folgewirkung der fehlenden oder unvollkommenen Löschbarkeit der medialen Informationen und Kommentare im Bewusstsein der ganzen oder von Teilen der Öffentlichkeit, die als Medienkonsument stets zur freiwilligen oder unfreiwilligen Mittäterin wird. Nachträgliche Korrekturen von falschen oder verzerrten Darstellungen sind gewöhnlich unvollkommen und erreichen nie mehr die gleiche, geschweige denn die ganze Öffentlichkeit."
Gmür nennt einige Möglichkeiten, im Vorfeld eine Prophylaxe gegen Medienkampagnen zu betreiben, aber auch in deren Verlauf sowie nach ihrem Abklingen die Opfer noch helfend zu unterstützen. Grundsätzlich wird er, wenn er die Wandlung des Medienstils insgesamt erörtert: "1968, 1980 und 1989 waren Wegmarken des Aufbruchs der liberalen Gesellschaft, eines Aufstandes der Sinne, der Pluralisierung der Kultur." (Falls sich einem Leser die Bedeutung der Jahreszahl 1980 nicht sofort erschließt: Gmür kann hier nur den Startpunkt für die Entstehung des Privatfernsehens meinen, das ja, siehe Johannes B. Kerner, auch die öffentlich-rechtlichen Kanäle prägte.) Gmür führt aus: "Dies hatte das Aufkommen einer aktionistisch-emotionalen Publizistik zur Folge. Wir beobachten ein Überhandnehmen der Emotionspublizistik, der Gefühlsstimulation statt sachgerechter Information, der Dramatisierung des Gewöhnlichen und Banalisierung des Abnormen. Der Medienstil hat sich in eine aggressive verletzende Publizistik verwandelt. Die Boulevard- und Sensationsmedien betreiben immer mehr Hexenverbrennungen und Kopfjägerei bis hin zum Bluthundjournalismus. Sie frönen der Lust an Schlammschlachten und am Rufmord und üben sich recht eigentlich im Hinrichtungsjournalismus."
Abschließend formuliert Gmür einige Ansätze der Medienethik aus der Perspektive der Medienopfer. (Vermutlich wird man diese Vorschläge ebenso ignorieren wie meine eigenen Vorschläge in der 2005 erschienenen Analyse "Warum Hohmann geht und Friedman bleibt".) Was Tribunalisierungsopfer wie Eva Herman angeht, fordert Gmür, dass ihnen ähnlich wie einem Angeklagten vor Gericht das Recht zur Stellungnahme eingeräumt werden solle. "Dabei ist zu beachten, dass das gleiche Publikum erreicht wird, das an der Tribunalisierung aktiv oder passiv teilgenommen und davon Kenntnis erhalten hat." Auch im ZDF soll ja nach dem Kerner-Tribunal, dem Eva Herman zum Opfer fiel, über eine Sondersendung zur Aufarbeitung nachgedacht worden sein. Dass dieser Gedanke wieder verworfen wurde, weist darauf hin, welchen Stellenwert medienethische Kriterien im ZDF derzeit offenbar einnehmen.
Das Bedrückende an der heutigen Situation ist, dass alle, die sich dazu aufgerufen fühlen sollten, diese Entwicklungen zu stoppen, sie vielmehr unterstützen. Hier muss ein klarer Appell an Journalisten, Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens (etwa die Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland) gerichtet werden, auf ihrer derzeit eingeschlagenen Richtung innezuhalten und zu erwägen, ob eine auch von ihnen unterstützte permanente Skandalisierung und ins Hysterische gehende Dauerempörung wirklich der richtige Weg zu einem verantwortungsvolleren Miteinander sein kann.
Dass das aktuelle Vorgehen der Medien für einige Bedenken sorgt, wird auch dadurch deutlich, dass nach Gmürs und meinem Buch dazu ein weiteres bereits in den Startlöchern steht: "Rufmord und Medienopfer", herausgegeben von Christian Schertz und Thomas Schuler, soll Libri zufolge im Dezember erscheinen.
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