Mittwoch, Oktober 21, 2009

Was man in Deutschland alles sagen darf

Jörg Lau liefert heute einen treffenden Kommentar zur inzwischen komplett übergeschnappten Sarrazin-Debatte. Einige Auszüge:

Sarrazin selber scheint sich erschrocken zu haben: Ob seine Entschuldigung, offenbar sei „nicht jede Formulierung gelungen“ gewesen, daraufhin deutet, dass ihm die Enthemmung mancher seiner Unterstützer selber unheimlich geworden ist? Aussagen wie „Jeder Ausländer raus, wenn er nach sechs Monaten keinen Job gefunden hat“ stammen eben nicht von den wenigen Extremisten, die man hier gar nicht zitieren kann, ohne der Volksverhetzung in Anführungsstrichen Vorschub zu leisten. Es ist vielmehr die wutschäumende Mitte, über die man sich Gedanken machen muss.

(...) Das Schnarrende, Herablassende, Höhnische ist seit jeher das Geheimnis seines Erfolgs. Thilo Sarrazin spricht vom Elitemangel in der Hauptstadt, vom Verfall der Bürgerlichkeit, den er aufhalten wolle. Sein eigener Ton, der bewusst mit dem Überschreiten ziviler Standards spielt, ist allerdings ziemlich unbürgerlich. Elite, die den Namen verdient, würde die Pöbelei gegen den hart arbeitenden Obst- und Gemüsehändler scheuen, der um drei Uhr morgens aufsteht, um seine Ware einzukaufen. Sarrazin ist in Wahrheit eine der vielen Gestalten der SPD-Rechten, in denen sich der Niedergang seiner Partei verkörpert: ein Sozialdemokrat, der den Leuten die Lizenz zur Verachtung derer ganz unten erteilt. (…)

Die jetzige Debatte mit ihrer reichlich wirren Kombination von Ökonomismus, Eugenik („Unterschichtgeburten“) und kokettem Borderline-Rassismus wirft den Streit um die Integration in Wahrheit um Jahre zurück – in jene Phase, als das Schimpfen noch geholfen hat und man glaubte, die Alteingesessenen müssten diesen Neuankömmlingen nur mit harter Hand klarmachen, dass sie sich entweder einzufügen oder zu verschwinden hätten. Diese Welt ist längst perdu, und mit ihr die Alternative von Assimilation oder Rückführung. (…)

Nach Jahren des Streits über Moscheebauten, Deutschpflicht, Kopftücher, Gewalt und Machismo an den Schulen gibt es in Deutschland praktisch kein Tabu mehr beim Reden über die Integration. Und das ist ein hohes Gut. Es ist daher ziemlich dreist, wenn nun ein Mann in der Pose des Tabubrechers auftritt, der sieben lange Jahre im wichtigsten Ressort einer rot-roten Landesregierung tätig war, die beinahe nichts gegen Verwahrlosung und Desintegration der Hauptstadt getan hat. Sieben Jahre hatte Thilo Sarrazin Zeit mit all der Macht des Kassenwartes darauf zu drängen, dass Berlin Avantgarde im Integrationsland Deutschland wird. Integrationspolitiker seiner eigenen Partei, wie etwa der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky, konnten auf einen Sarrazin all die Jahre nicht zählen. Das macht es geradezu bizarr, wenn Sarrazin nun wegen seiner Zivilcourage gelobt wird und ein Kollege in der FAZ ihn gar auf eine Stufe mit dem in der Münchener S-Bahn erschlagenen Dominik Brunner stellt. Es ist an der Zeit, diese überschnappende Debatte auf den Boden der Realität zurückzuholen. Allerdings kann die neue Regierung etwas aus ihr lernen: Die begonnene Integrationspolitik muss nicht nur viel entschiedener fortgeführt werden. Sie muss auch wesentlich besser begründet und öffentlich erklärt werden.


Der Artikel ist in Gänze lesenswert.