Sonntag, Januar 22, 2006

immer noch 22. Januar

Der 2003 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnete israelische Historiker Reuven Moskovitz erklärt zum Auschwitz-Gedenktag am 27. Januar in der „jungen welt“: „Ich bin Jude und Israeli, der die Hölle der Verfolgung überlebt hat. (…) Mit Schmerz und Sorge sehe ich, daß das Gedenken an Auschwitz manipuliert wird zur Rechtfertigung der israelischen Gewaltpolitik. Der offizielle Gedenkkult scheint häufig darauf abzuzielen, durch die Erinnerung an dieses unsagbare Verbrechen an den Juden die Menschen, besonders die Deutschen, davon abzuhalten, Kritik an der israelischen Politik zu üben. Jeder Versuch, Auschwitz, zu instrumentalisieren, ist eine Entwürdigung der Opfer und eine Herabsetzung der Bedeutung von Auschwitz. (…) Diese ermahnende Botschaft wollte ich an der neu errichteten Holocaust- Gedenkstätte (in Berlin, jW) überbringen. Als ich um die behördliche Genehmigung dafür gebeten habe, wurde mir gesagt, daß eine Mahnwache, die zur Kritik an der bisherigen Friedensverweigerungspolitik aufruft, nicht gestattet ist. (...)“

Derweilen berichtet eine Friedensaktivistin aus Israel in einem offenen Brief: „Ich habe lange darüber nachgedacht, was du mich gefragt hast, ob Israels Besatzung ein kriechender Genozid sei. Ich empfinde es so. Ich habe das Gefühl, dass wir mitten in einem palästinensischen Holocaust sind. Aber wenn ich das laut sage, reagieren meine Freunde heftig dagegen. Sogar Leute von der extremen Linken. Aber wie sollen wir es nennen? Unsere normale Sprache hat darauf keine Antwort. Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Auf jeden Fall. Ethnische Säuberung? Ja. Aber was sagt man zu einer kollektiven Strafe, die 850.000 Menschen im Norden der Westbank in ihre Gettos einsperrt und es ihnen unmöglich macht, medizinische Versorgung, Nahrungsmittel, Wasser, Schulbildung, Einkommen zu erhalten ??? oder 1,5 Millionen im Gazastreifen? Wie nennt man solch ein Verbrechen, das die israelische Gesellschaft begeht???“

In einem aktuellen Kommentar beschimpft Henryk Broder Juden, die sich, anders als er, über diese Verbrechen entsetzen, als ”nützliche Zeitgeist-Idioten“ . Dabei bezieht er sich auf einen Text aus Springers „Welt“, der zwar nicht einmal rhetorisch besonders clever gestrickt ist (schließlich lernt man schon in jedem Anfängerseminar: wenn du etwas überhaupt nicht belegen kannst, dann schreibe, es sei „allgemein bekannt“), der aber als kleines Psychogramm gute Dienste leistet. So lautet sein Kernargument: „Der aufgeklärte Teil des heutigen Europa hätte aber doch gern, daß die Juden im Tausch für die vollwertige Mitgliedschaft im Kreise der herrschenden Meinung ein Kernstück ihrer Identität aufgeben: ihr Selbstverständnis als jüdisches Volk, wie sie es durch ihre Bindung an den demokratischen Staat Israel und das zionistische Projekt ausdrücken. (…) Nimmt es da wunder, daß einige Juden sich entschieden haben, im Licht zu leben, indem sie in jenen Chor einfallen, der ihre Mitjuden in die Dunkelheit verdammt?“ Diese beiden Sätze erlauben interessante Einblicke: In der Argumentation des ersten gibt jeder Jude, der die Greueltaten an den Palästinensern auch als solche benennt, das Kernstück seiner Identität, nämlich seine Volkszugehörigkeit auf. Die Argumentationsstruktur ist hier dieselbe, wie wenn man einem Gegner von Hitlers Vernichtungslagern vorgeworfen hätte, ein vaterlandsloser Geselle zu sein und außerhalb der Volksgemeinschaft zu stehen. In der Argumentation des zweiten Satzes wird Juden mit einem ausgeprägteren Gewissen als dem des „Welt“-Autors unterstellt, sie würden aus schierem Opportunismus heraus die israelischen Untaten verdammen. (Männerrechtler erinnert das unweigerlich an die Argumentation Alice Schwarzers, jede Frau, die sich der Ideologie des Radikalfeminismus verweigere, sei eine Verräterin oder vom Patriarchat manipuliert.) Bedenklich ist in jedem Fall, dass eine führende deutsche Zeitung im Jahr 2006 Juden herabsetzt, um denjenigen den Rücken zu decken, die nach Ansicht von Beobachtern einen neuen Holocaust verschulden. Und ausgerechnet an der deutschen Holocaust-Gedenkstätte ist eine jüdische Mahnwache gegen diese Greueltaten nicht gestattet! Es scheint, als ob gerade die, die am lautesten tönen, am wenigsten die Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen haben.