31. März 2006
Aktuell ist eine weitere Rezension zu Norman Finkelsteins neuestem Buch erschienen. Sie trägt die Überschrift “Wenn Antisemitismus politisch instrumentalisiert wird” und beginnt mit den Sätzen: „Keine Sorge. Dieses Buch wird keinen Entrüstungssturm auslösen, wie es Norman Finkelsteins Polemik gegen Die Holocaust-Industrie vor ein paar Jahren tat. Denn allzu bekannt sind inzwischen die Fakten und historischen Hintergründe des Nahost-Konflikts, als dass noch irgendjemand auf die Idee käme, die von Finkelstein allerdings höchst polemisch vorgetragenen Argumente ernsthaft infrage zu stellen. Die Bücher beispielsweise von Noam Chomsky, Michael Warschawski und Ziaudin Sardar/Merryl Wyn Davies haben auch hierzulande hinreichend publik gemacht, dass Israel und sein Hauptverbündeter USA maßgeblich dazu beitragen, dass eine einvernehmliche Zwei-Staaten-Lösung – die Koexistenz eines jüdischen Staates in den Grenzen von 1967 und eines palästinensischen Staates – permanent sabotiert wird.“ In diesem Stil geht es weiter, und verwundert reibt man sich ein wenig darüber die Augen, dass eine solche Besprechung ausgerechnet in der „Zeit“ erscheint – verweist sie doch all die irrlichternden Gestalten von Henryk Broders „Achse des Guten“ über Sacha Stawskis „Honestly Concerned“ bis zum Winkeladvokaten Dershowitz geradezu beiläufig in jenes politische Wolkenkuckucksheim, in dem sie sich ohnehin schon seit längerem befinden. Das verblüfft: Findet etwa nicht alle paar Wochen eine neue Hetzjagd gegen Menschen statt, die genau das, was der „Zeit“-Autor hier schon als Binsenweisheit verkündet, öffentlich zu äußern wagten – eine Hetzjagd, bei der sich auch die „Zeit“ (etwa im Fall Möllemanns) gerne mal beteiligt hatte? Muss man noch in diesem April damit rechnen, etwa in der „Jüdischen“ oder bei Hagalil einen Leitartikel mit Sätzen zu finden wie „Dass die israelischen Regierungen seit Jahrzehnten die Menschen- und Völkerrechte gezielt mit Füßen treten, um ihre Besatzungspolitik durchzusetzen, ist so trivial, dass diese Erkenntnis keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken würde“? Irgendwann in den letzten Monaten muss mal wieder ein Diskurs gekippt sein, und wer sich damals noch als Wortfüherer aufspielte, schaut heute als Ewig-Gestriger reichlich dumm aus der Wäsche. Dass muss die „Zeit“ auf den Gedanken gebracht haben, eine dreiste Flucht nach vorne anzutreten, frei nach dem Motto: Wenn sich irgendeine ursprünglich verhasste politische Erkenntnis einmal so weit durchgesetzt hat, dass du sie überhaupt nicht mehr bekämpfen kannst, dann tu am besten so, als sei sie völlig trivial und du hättest etwas Ähnliches eigentlich schon immer gesagt ...
Damit passiert genau das, was ich im Vorwort meines „Lexikons der Tabubrüche“ ausführlich analysiert habe: Was vor kurzem noch verbotenes Gelände irgendwo weit draußen war, ist etwas später wie selbstverständlich Teil der Innenstadt geworden. Der Impressionismus, zu seiner Zeit ein Skandal, ist heute ein Tapetenmuster. SM war vor fünfzehn Jahren noch pervers und beherrscht heute die Spitzenpositionen der Erotik-Titel bei Amazon. Selbst die Anliegen der Männerbewegung scheinen allmählich politische Aufmerksamkeit zu gewinnen, und wer die „Junge Freiheit“ aufschlägt, gilt außer bei der ideologisierten Linken auch nicht mehr automatisch als unrein. Zugegeben: Wer sich als erster vorwagt, bekommt naturgemäß auch als erster links und rechts ein paar in die Fresse - aber einer wird den Anfang wohl machen müssen. Hinterher hat man immerhin die satte Genugtuung, beim Kippen eines solchen ausgrenzenden Diskurses von Beginn an dabei gewesen zu sein.
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