Dienstag, August 31, 2010

Sarrazin: "Jetzt bin ich erst mal dabei, die Auflage zu steigern“

Gestern Abend begann Thilo Sarrazins Tour durch deutsche Talkshows bei "Beckmann" – und die Sendung war durchaus entlarvend.

Özdag, Özkan, das özt doch egal: Thilo Sarrazin wirkt bei „Beckmann“ wie eine Figur von Wolfgang Menge - so richtig aufregen will und kann sich darüber keiner. Denn sein Altmann-Gemecker ist zwar xenophob, wirkt im Fernsehen aber hilflos.


Das schreibt Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen und glaubt, dass die Sarrazin-Debatte zuletzt auch etwas Gutes haben könnte:

Thilo Sarrazin könnte sich, nach dem englischen Spruch, noch als blessing in disguise erweisen, als Segen, der zunächst ganz anders wahrgenommen wird. Seine komischen Ansichten, denen er mit eigenwillig selektierten Fakten und mühsam uminterpretierten Forschungsergebnissen den Anschein von wissenschaftlicher Objektivität verleihen möchte, werden, in ganz Europa übrigens, von vielen geteilt. Sein Buch stellt diese bürgerliche Fremdenangst in extenso dar, ohne dass sich dessen Autor zum Volkstribun oder zum Chef einer rechtsextremen Partei eignen würde. Man kann hier also endlich einmal zeigen, was an diesen Aussagen zutreffend ist, was eine Fehlinterpretation und was geradewegs in die Katastrophe führt. Sarrazin könnte, entgegen seiner Absicht, die Abwehrkräfte gegen seine Art von bornierter und fantasieloser Kinderbewertung mobilisieren. Sein Buch ist ein Impfstoff. Wer es liest, schüttelt sich und weiß dann: Dies ist der falsche Weg.


Der Westen berichtet, wie sich Sarrazin bei "Beckmann" ausgerechnet von einer "genetisch minderwertigen" Soziologin mit iranischem Hintergrund Nachhilfeunterricht in Statistik geben lassen muss:

Die Politologin und Soziologin Naika Foroutan, selbst mit iranischem Migrationshintergrund, brachte in wenigen wohlgesetzten Sätzen Sarrazins wackliges Statistik-Gebilde arg ins Wanken. Etwa so: Sarrazin sagt, 40 Prozent der Migranten leben von Transferleistungen. Foroutan: Stimmt nicht, 80 Prozent haben eigene Einkünfte. Sarrazin sagt, es gebe kaum erkennbare Bildungs-Erfolge bei Migranten. Foroutan: Unsinn. Die Abiturienten-Quote bei türkischstämmigen Schülern etwa ist in den letzten rund 30 Jahren von ehemals drei auf heute 18 Prozent gestiegen. (...)

Dass am Schluss dann doch noch die Maske des vermeintlichen Aufklärers Sarrazin fiel und der wahre, reichlich profane Grund für seine Provokationen offenbart wurde, war denn auch weder dem Gastgeber, noch seinen „Lieben am Tisch“ (Beckmann) zu verdanken - sondern Sarrazin höchstselbst. Auf die Frage gegen Ende der Sendung, was er denn mit dem Honorar aus seinen Buch-Verkäufen anfangen werde, antwortete der frischgebackene Bestseller-Autor, dafür habe er „noch keine Pläne“. Und fügte freimütig hinzu: „Jetzt bin ich erst mal dabei, die Auflage zu steigern.“


Auch Michael Spreng hat den starken Eindruck, dass es Sarrazin vor allem darum geht:

Sarazzin weiss genau, wenn er anfinge, zu differenzieren, Formulierungen wie “Kopftuchmädchen produzieren” wegzulassen und keinen Untergang Deutschlands mehr zu prophezeien, verschwände er im Nichts oder im Aktenstaub der Bundesbank. Also macht er immer weiter wie ein wahnsinniger Zahnarzt: er bohrt immer tiefer, obwohl der Nerv schon lange freigelegt und er im Kiefer ankommen ist, und freut sich, wenn sich der Patient im Stuhl vor Schmerzen windet und schreit. Wer immer noch zu diesem Zahnarzt geht, ist selber schuld.


Auch die Frankfurter Rundschau analysiert Sarrazins tückische Vermarktungsmethode:
Am Wochenende hat er die Aufregung über sein Buch noch einmal weiter angefacht, indem er sich über die Gene der Juden verbreitet hat, wohl bewusst und kühl kalkulierend, dass allein die Erwähnung des Opfervolks des Holocaust im Zusammenhang dieser Debatte in Deutschland Alarmglocken schrillen lässt. Scheinheilig ist nun sein Versuch, dies zu vertuschen. Er habe sich auf wissenschaftliche Untersuchungen über gemeinsame genetische Wurzeln aller Juden bezogen, und diese Erkenntnis, „ein Faktum“, berge weder eine positive noch eine negative Wertung. Er habe das völlig unbefangen gesagt – „das war der Fehler, aber der einzige“. (...) Die Methode ist klar: Mit zugespitzten Zitaten und zweideutigen Anspielungen hat Sarrazin das Interesse an seinem Buch hochgepeitscht. Nun gibt er den seriösen, abgewogenen Autor, der nichts tut, als auf bekannte, wenn auch unangenehme und deshalb gern beschwiegene Fakten hinzuweisen. Dass ihn das in die Nähe jener Rechtspopulisten bringt, die in anderen europäischen Ländern ihr Unwesen treiben, ist das etwa seine Schuld? (...) In Sarrazins Erklärung, er fühle sich vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt, steckt schon die nächste Volte, die Vorbereitung der nächsten Stufe des Erregungsprojekts. Sollte er zum Rückzug aus dem Bankvorstand gezwungen werden, stünde für ihn und die interessierte Öffentlichkeit die Rolle des Märtyrers bereit: Der Tabubrecher, dem der Mund verboten werden soll, der wegen seiner Meinung verfolgt und gedeckelt wird.

Wie sehr sich der kalkulierte Rassismus für Sarrazin lohnen dürfte, rechnet der Berliner Kurier vor:

Branchenkenner schätzen, dass Sarrazin rund 300.000 Bücher im Hardcover verkaufen könnte. In der Regel erhalten Sachbuchautoren bis zu 13 Prozent des Nettoladenpreises (22,99 Euro) – Sarrazin könnte sich also allein dadurch über rund 800.000 Euro freuen. Die Provokation hat sich gelohnt.


Wenn man gleichzeitig quer durchs Internet liest, wie viele den kühl kalkulierenden Sarrazin für das arme und unschuldige Opfer einer großangelegten Hexenjagd halten, kann einem schon speiübel werden.

Die Ostthüringer Zeitung stellt zum x-ten Mal Sarrazins Thesen auf den Prüfstand – und zum x-ten Mal bestehen sie die Prüfung nicht.

In derselben Zeitung zeigt sich Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung zuversichtlich:

Man darf weder Bücher noch Meinungen verbieten. Man muss den Populismus, der Demagogie solide vernünftige Aufklärung entgegensetzen und die Vernünftigen im Land erreichen. (...) Wenn sich das beruhigt hat, wird Sarrazin als Schreihals, Radaumacher und Bediener von Reflexen in der Mehrheitsgesellschaft entlarvt sein.