Montag, August 30, 2010

Presseschau: Sarrazin und sein Faible für Eugenik

Die Debatte um Sarrazins aggressives Selbstmitleid tobt noch immer. Ich habe Passagen aus einigen der besseren Kommentare zusammengestellt.

Die Süddeutsche Zeitung berichtet:

Das Buch enthält trotz der vielen Statistiken viele Fehler. Das schönste Eingeständnis steht auf den Seiten 359/360, nachdem Sarrazin langatmig erklärt hat, dass die Türken bald die Deutschen in die Minderheit gebären werden: "Es gibt keine wissenschaftlich zuverlässige Methode, Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere Jahrzehnte verlässlich vorherzusagen." Ja, so ist's, so sagt es jeder Demograph in Europa. Doch genau auf diese Vorhersage hat Sarrazin die 358 vorhergehenden Seiten seines Buches gebaut. Es gibt kein Wort über die schlechten Sprachleistungen vieler Italiener der zweiten und dritten Generation - die sind ja auch keine Muslime. Kein Wort darüber, dass es in Deutschland zur Zeit mehr Aus- als Einwanderer gibt.


Auch in einem weiteren Faktencheck, diesmal der Berliner Morgenpost, sieht Sarrazin blass aus.

Frank Schirrmacher befindet in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (nicht online):

Zur Überzeugungskraft des Buches trägt nicht bei, dass sich Sarrazin großenteils auf die hoch kontroversen Arbeiten von Charles Murray und Richard Herrnstein ("The Bell Curve") stützt. Doch er verschweigt ihre Namen im Register und in den Anmerkungen; er geht vor allem nicht auf die Einwände gegen ihre Ergebnisse ein, die bis zum Vorwurf des Betrugs und der Desinformation reichen. So hat Eric Turkheimer durch eine Überprüfung der Befunde der "Bell Curve" deren Ergebnisse geradezu widerlegt: Er konnte zeigen, dass bei Zwillingen in Unterschichtenmilieus die Entwicklung der genetischen Anlagen tatsächlich von den Umwelteinflüssen abhängig war. (...) Es ist erstaunlich, in einem Kapitel über die moderne Arbeitswelt folgende Sätze zu lesen: "Jeder Hunde- und Pferdezüchter lebt davon, dass es große Unterschiede im Temperament und Begabungsprofil der Tiere gibt und dass diese Unterschiede erblich sind. Das heißt auch, dass manche Tiere schlichtweg dümmer oder wesentlich intelligenter sind als vergleichbare Tiere ihrer Rasse. Francis Galton war der Erste, der sich mit der Entwicklung und Vererbung menschlicher Intelligenz befasst hat. Er war der Vater der frühen Intelligenzforschung." Galton, so muss man hinzufügen, was Sarrazin hinzuzufügen vergisst, war vor allem der Vater der modernen Eugenik. Und auch das ist eine der Hintertüren, die Sarrazin sich offenlässt: ein Buch, das faktisch für eine eugenische Demographie plädiert, hätte den Begriff verhandeln und im Sachregister aufnehmen müssen, statt ihn verschämt als Adjektiv im Strom der Gedanken untergehen zu lassen. (...) (S)eine Antwort ist so radikal, dass sie vor muslimischen Milieus nicht haltmachen wird. Sie betrifft alle, das sollten seine Anhänger wissen.


Mit anderen Worten: Denkt man Sarrazins Thesen zuende, müsste man nicht nur die Fortpflanzung der "genetisch minderwertigen" Muslime und der offenbar ebenso "genetisch minderwertigen" Unterschicht unterbinden, früher oder später sind dann auch wieder Behinderte an der Reihe – und wenn man konsequent ist, auch all die intellektuellen Vollversager, die die Kommentarspalten von Blogs wie "Politically Incorrect" zumüllen. Ob Sarrazins Fans klar ist, dass sie jemandem applaudieren, der es für keine gute Idee zu halten scheint, wenn sich solche Leute fortpflanzen?

Auch Georg Thanscheidt, Vize-Chef der Münchner Abendzeitung, befindet, Sarrazin müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er ein Rassist sei, so wie er in seinem Buch zuwerke gehe:

Da wird wohlwollend der britische Forscher Francis Galton zitiert. Der Zeitgenosse Mendels war nicht nur der „Vater der frühen Intelligenzforschung“, wie Sarrazin schreibt, sondern auch einer der Väter der Eugenik, die nach Wegen suchte, die „eigene Rasse zu verbessern“. Eine These des Briten: Die „natürlichen Eigenschaften des Negers“ seien – auch wenn er in den USA geboren ist – die gleichen wie „seines entfernten Vetters in Afrika“. An vielen Stellen seines Werkes tun sich ähnliche Abgründe auf.


Bei der "jungen welt" reibt sich Knut Mellenthin an Sarrazins Faible für Eugenik:

Ebenso wie Sarrazin hatte es Hitlers Innenminister neben der abnehmenden Geburtenzahl auch »die Güte und Beschaffenheit unserer deutschen Bevölkerung« angetan. Die sah er allerdings anders als Sarrazin nicht durch Migranten – die es damals noch nicht in nennenswerter Zahl gab – und angeblich genetisch »minderintelligente« Unterschichtsangehörige gefährdet, sondern durch »Erbkranke« und »Schwachsinnige«. Wie man sich später die sogenannten Ballast-Existenzen– ein Begriff, der durchaus auch bei Sarrazin stehen könnte, wenn er nicht historisch allzu belastet wäre – vom Halse schaffte, ist bekannt.


Aber Sarrazins Eugenik-Ideen erschrecken nicht nur auf moralischer Ebene, sie dürften auch kaum zum Ziel führen. So hält der Berliner Tagesspiegel unter der Überschrift "Kann man Intelligenz züchten?" fest:

Der Vorschlag Thilo Sarrazins, mit einer hohen Prämie junge Akademikerinnen zum Kinderkriegen zu überreden, zielt in diese Richtung. Sarrazin hofft, mit dieser Maßnahme den IQ der Bevölkerung zu heben. „Der Effekt ist viel zu gering“, sagt dagegen der Genetiker Ropers. So gering, dass man vermutlich Jahrhunderte brauchen würde, um überhaupt eine gewisse Wirkung zu beobachten. Wer die Intelligenz der Bevölkerung steigern will, kann mit Investitionen in die Bildung also deutlich mehr erreichen. Singapur verfolgte seit 1984 eine ähnliche eugenische Politik wie von Sarrazin gefordert, hat sie aber wieder aufgegeben. Jetzt fördert man die Fruchtbarkeit ganz allgemein, ohne Ansehen des Schulabschlusses.


Und schließlich nennt Daniel Bax in der Berliner tageszeitung die zentralen Probleme, zu denen uns diese Debatte führt:

Der Fall Sarrazin wirft aber zugleich schwierige Fragen auf: Was tun, wenn 65 Jahre nach dem Verbot von "Mein Kampf" erstmals wieder ein rassentheoretisches Traktat in Deutschland zum Bestseller avanciert? Was tun, wenn man wie die SPD den Zeitpunkt verpasst hat, Sarrazin rechtzeitig aus der Partei auszuschließen? Und was tun, wenn ein Vorstand der Bundesbank praktisch unkündbar ist, obwohl er deren Ansehen in der Welt gründlich schadet?


Das Problem in Deutschland ist mal wieder nicht ein einzelner Freak - sondern die vielen anderen Freaks, die ihm zujubeln. Das befindet in einer ausführlichen Medienkritik auch das Blog "Nachdenkseiten": Biedermänner und ein Brandstifter.