Mittwoch, September 22, 2010

FAZ: Ist Sarrazin ein verkappter Linksradikaler?

Ich habe nie ganz verstanden, warum Thilo Sarrazin vor allem in der Zeitschrift "eigentümlich frei" (bei der ich mitarbeite) dermaßen gefeiert wird, obwohl unser Magazin massiven staatlichen Reglementierungen normalerweise abhold ist. Immerhin haben aber auch bei "eifrei" die ersten inzwischen erkannt, vom wem man sich da aufs Glatteis locken ließ. Nils Minkmar erklärt es in der Frankfurter Allgemeinen noch einmal ausführlich:

Er ist ein moderner Faust: Um den schönen historischen Augenblick zu bewahren, würde er einen Pakt mit dem Teufel eingehen. Damit ist nicht nur sein biologistisches Programm gemeint, das in der hohen Geldprämie für gebärende Akademikerinnen unter dreißig gipfelt - wobei nur die Festschreibung eines Notendurchschnitts noch fehlt, der nachzuweisen wäre, bevor das Baby wirklich willkommen ist. (...)

Um es, wie Sarrazin es liebt, „schnörkellos“ zu sagen: Wenn wir hier mit einer aktiven Bevölkerungspolitik nach den Ideen der von ihm so anerkennend zitierten Herren Volkmar Weiss, Richard Lynn oder Gunnar Heinsohn anfangen, dann konkurriert die Bundesrepublik bald mit Zimbabwe um den Platz des unbeliebtesten Staates der Welt. Die verheerenden Folgen würden sich nicht nur in Exporten, Wissenschaftsaustausch und Tourismus bemerkbar machen, es würden auch noch mehr Menschen dieses Land verlassen als ohnehin schon - und man könnte sie gut verstehen.

Aber im Buch, das man ganz lesen muss, mit allen Anmerkungen, ist noch mehr Zündstoff: Ganz übersehen wird von vielen, die Sarrazin heute feiern, sein geradezu linksradikales Programm zum Umbau unseres Bildungssystems. Er fordert nicht nur staatliche Hausbesuche nach der Geburt, um die Mütter in Ernährungsfragen und Kinderpflege anzuleiten. Er möchte anschließend eine Kitapflicht, die grundsätzlich auf Ganztagsbetreuung ausgerichtet sein soll. Nach einigen Jahren käme das Kind in die Grundschule, auch sie eine Ganztagsschule. Dort gäbe es keinen Fernseher, und alle trügen Uniform. Und dann immer so weiter: „Zumindest für die größeren Kinder muss die Ganztagsschule so aufgebaut sein, dass sie zu Hause neben dem Wochenende nur den Feierabend verbringen.“ Zwischen Geburt und erstem Bildungsabschluss wäre das Kind doch eher ein seltener Gast zu Hause.


Für viele Sarrazin-Fans aus dem bürgerlichen Lager, selbst wenn sie so radikal sind, "Homeschooling" staatlichen Schulen vorzuziehen, geht ein starker Staat plötzlich in Ordnung, solange die Reklame dafür nur mit Thesen darüber verquickt ist, dass die Angehörigen der Unterschicht tatsächlich minderwertig seien. Die Wirtschaftskrise scheint das Bürgertum doch ordentlich getroffen und starke Abstiegsängste aufgewühlt zu haben. Aber ob diese Ängste mit dem festen Glauben an eine genetische, somit naturbedingte Höherwertigkeit der Eliten wirklich auszuräumen sind?