Montag, Oktober 11, 2010

Seehofer will von "Zuwanderungsstopp" nichts mehr wissen

Nach seinem vielfach kritisierten FOCUS-Interview wurde Horst Seehofer von etlichen Seiten vorgerechnet, dass Deutschland nicht über zu viele, sondern über zu wenige Zuwanderer verfügt, es sich gar vom Einwanderungs- zum Auswanderungsland entwickelt hat. Auch aus den eigenen Reihen konnten sich viele nicht mit Seehofers Gepolter anfreunden:

Bemerkenswert ist, dass auch Konservative in der CDU eher auf Distanz zu dem rhetorischen Sprengsatz aus Bayern gingen. So äußerte sich Uwe Schünemann, Innenminister in Niedersachsen und als Law-and-Order-Mann bekannt, skeptisch. "Was Herr Seehofer hier gesagt hat, geht eindeutig zu weit." Man dürfe Migrantengruppen nicht gegeneinander ausspielen. Seehofers Äußerungen seien reiner "Populismus". Auch Roland Koch, Ex-Ministerpräsident von Hessen und noch Vize-Chef der CDU, ließ in einem Radiointerview durchblicken, was er von Seehofers Migrationsstopp für Muslime hält: nichts.


Nun rudert der CSU-Chef eilig zurück. Die Münchner
Abendzeitung berichtet fast schon süffisant:

Am Montag reichte es Angela Merkel. In aller Früh griff die Kanzlerin zum Telefon und rief Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer an. Der hatte mit seinen Äußerungen zur Zuwanderung von Türken einen Sturm der Empörung ausgelöst. Es wurde ein „sehr ausführliches“ Gespräch. Danach ruderte der CSU-Chef zurück. Kurz nach neun, als er vor der Hanns-Seidel-Stiftung zum „Internationalen Strategie-Symposium“ eintraf, hatte er seine eigene Strategie auf Rückzug umgestellt: Nie habe er einen Zuzugsstopp von Türken und Arabern gefordert. Seehofer: „Lesen Sie mein Interview, dann werden Sie so einen Begriff nicht finden.“ Schuld an der Aufregung sind jetzt die anderen. Die, die ihn falsch interpretiert haben, heißt es in Seehofers Umgebung. Selbst die eigenen Leute verstehen den Klartextpolitiker offensichtlich nicht.


Auch die Frankfurter Allgemeine lässt Seehofer diesen Quatsch nicht durchgehen:

Gegen Seehofers Äußerungen wandte sich ungewohnt entschieden die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Böhmer (CDU): „Ich bin schockiert über die Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten.“ Menschen aus einem anderen Kulturkreis dürften nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden. Frau Böhmer kritisierte: „Das grenzt aus und läuft allen Integrationsbemühungen zuwider.“ Der bayerische Ministerpräsident entgegnete dem, es sei wohl eine Erscheinung der gegenwärtigen Zeit, dass Leute sagen: „Ich habe zwar das Buch nicht gelesen, aber ich kann es bewerten.“ Offenbar sei das auch bei Frau Böhmer der Fall. Er habe in seinem Interview keinen generellen Zuwanderungsstopp für Türken und Araber gefordert. Allerdings besagt der Text genau das, und es finden sich auch keine relativierenden Äußerungen Seehofers.


Hart gehen auch die Süddeutsche Zeitung, der STERN und der Tagesspiegel mit Seehofer ins Gericht. Dass Seehofer sich fast schon grundsätzlich missverstanden fühlt und an zwei Tagen hintereinander drei verschiedene Meinungen zur selben Sache vertritt beklagt unter anderem die Nürnberger Zeitung. Mancher erinnert sich etwa noch gut daran, wie Seehofer erst heftig gegen die Aussetzung der Wehrpflicht Einspruch einlegte, um dann plötzlich ihre Abschaffung zu fordern.

Grundsätzlich scheint aber auch Seehofers "Richtigstellung"
wenig Sinn zu ergeben. So wanderten im Jahr 2009 kaum mehr als tausend Arbeitsmigranten von der Türkei nach Deutschland ein:

Die reinen Zuwanderungszahlen sagen noch recht wenig über die Arbeitsmigration - aber darum ging es dem CSU-Chef nach eigener Klarstellung vom Montag. Dabei ist die Einwanderung zum Arbeiten streng reguliert. Nur für Akademiker und Spitzenkräfte, die einen Job mit mehr als 66.000 Euro Jahresgehalt nachweislich sicher haben, ist eine Einreise einfach. Sonst gilt nach dem Aufenthaltsgesetz die 'Vorrangprüfung' - Ausländerbehörde und Arbeitsagentur schauen akribisch darauf, ob eine freie Stelle nicht an einen Einheimischen oder einen schon hier lebenden Ausländer vergeben werden kann, bevor ein neuer Ausländer einreist. Insgesamt weist eine neue Studie des Bundesamts für Migration zur 'Deckung des Arbeitskräftebedarfs durch Zuwanderung' für das Jahr 2009 nur rund 26.400 Arbeitsmigranten aus. Davon kamen aus der Türkei 1.053 (von denen wiederum 715 als 'Qualifizierte' geführt wurden und lediglich 115 als 'Geringqualifizierte'). Zum Vergleich: Aus den USA kamen dieser Statistik zufolge 3.229 Menschen zum Arbeiten nach Deutschland, aus Indien 3.094 und aus China 2.356.


Eines ist auf jeden Fall gleich geblieben: Die Regierungskoalition präsentiert sich auch bei diesem Thema einmal mehr chaotisch und völlig zerstritten. Einerseits den Fremdenfeinden Genüge zu tun, aber andererseits die vorliegenden Fakten zu berücksichtigen ist allerdings auch ein unmöglicher Spagat.