Berliner Zeitung: "Der Neandertal-Feminismus schlägt zurück"
Ein Kommentar Malte Weldings in der "Berliner Zeitung" über den Kachelmann-Prozess äußert eine dermaßen tiefgehende Kritik, dass ich um sehr ausführliches Zitieren kaum herumkomme, wenn ich auch nur die zentralen Gedanken darlegen will:
Es gibt eine Tatsache, über die wird nicht gerne berichtet, weil dann der ganze schöne Spannungsbogen, der so mühselig seit über einem Jahr gespannt wird, reißen würde. Die Tatsache lautet: Jörg Kachelmann wird nicht verurteilt werden.
Opfer eines immer gnadenloseren Medien-Irrsinns, so Welding, wurde Kachelmann aber dennoch:
Noch nie wurde das Intimleben eines Menschen so umfassend durchleuchtet, wurden die Details eines Lebens von einem ganzen Volk zerredet, bequatscht, verhöhnt, bis das ganze Leben selbst der Lächerlichkeit preisgegeben war. Oder doch eher: bis dem ganzen Menschen entzogen war, was nur ihm gehören soll.
An die Stelle einer juristischen Verurteilung kann so die Verurteilung durch das "gesunde Volksempfinden" treten:
Bliebe die Möglichkeit, Kachelmann einfach so zu verurteilen. Weil er ein Schwein ist. Sagte nicht Alice Schwarzer, „der Angeklagte“ lebe „in einem pathologisch anmutenden Gespinst aus Lügen“? Sagte sie nicht, damit verletze er die Menschenwürde der Frauen? Reicht das nicht?
Welding macht keinen Hehl daraus, was er von derlei Argumentatonsfiguren hält:
Es ist ein Bärendienst der schlimmsten Sorte, wollte Alice Schwarzer in Zusammenarbeit mit der Bild-Zeitung (...) aus der absoluten Unverletzlichkeit der Intimsphäre eine Art Belohnung für Wohlverhalten machen.
Dabei hat sich Welding mit dem propagandistischen Begleitfeuer des Kachelmann-Prozesses in feministischen Zirkeln offenbar gründlich beschäftigt. Und er verbirgt auch hier seine Abneigung nicht:
Wann immer eine Gutachterin während des Prozesses zugunsten Kachelmanns spricht, taucht ein Gedanke auf im Emma-Forum, eher noch: eine kopfschüttelnd vorgetragene Frage: „Wie kann eine Frau nur Männer im Kampf gegen eine Frau unterstützen?“ Hier die Opfer, dort die Täter. Und wenn eine aus dem Opfervolk einen aus dem Tätervolk unterstützt, dann ist sie eine Verräterin. Das ist Steinzeitdenken, nicht Feminismus.
Der enge, verklemmte Feminismus, den Schwarzer seit Jahrzehnten vertritt, schien schon abgelöst worden zu sein von dem neuen, Sexualität bejahenden Feminismus, für den beispielsweise Charlotte Roche steht. Nun aber schlägt der Neandertalfeminismus zurück im Bund mit den Kampfblättern der Verbohrtheit, und es wird sichtbar, was er immer schon war: kleinbürgerliches Naserümpfen über alles Fremde.
(...) Schaut man heute darauf, was die Frau will, wollte Alice Schwarzer bislang entscheiden können, was die Frau wollen soll. Schwarzer und ihre Klone im Emma-Forum schreiben so einfach den alten Sexualmythos fort: Frauen wollen Liebe und gute Gespräche, Männer wollen Sex und Gewalt.
Der von Welding zitierte Kulturwissenschaftler Michael Seemann schließlich vermittelt in diesem Zusammenhang Angst und Hoffnung zugleich:
„Was jetzt bei Kachelmann passiert, wird bald auf jeden zukommen“, sagt Seemann, „wenn auch mit einer kleineren Öffentlichkeit.“ Seemann hofft dabei auf eine befreiende Wirkung: „Noch kann Schwarzer Kachelmann als Unmenschen stilisieren, weil er BDSM praktiziert und sie ihn als Einzelfall ins Licht stellen kann. Eine über sich selbst informierte Gesellschaft jedoch wird gezwungen, ihre Toleranzkriterien an dem Einzelnen zu rejustieren.“
Wie man vermutlich merkt, ist der Artikel in Gänze lesenswert. Als kleines Entschädigungsangebot für mein doch sehr umfangreiches Zitieren verweise ich gerne auf Malte Weldings Blog, wo der Artikel ebenfalls erschienen ist und kommentiert werden kann.
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