Freitag, Juli 29, 2011

Massenmord in Norwegen als Chance für Sarrazin?

Auch heute wieder die aktuelle Presseschau zur Debatte über Islamophobie und ihre Folgen. Es scheint euch immer noch zu interessieren; die Zahl der Zugriffe ist fast unverändert hoch. Allzu lange werde ich das Thema aber nicht mehr weitertreiben, auch da in der Debatte die zitierenswerten Artikel allmählich weniger werden.

Verschiedene Extremismusexperten befanden gestern, dass Thilo Sarrazin und andere ein ideologisches Klima vorbereitet hätten, in dem Taten von Extremisten wie Anders Behring Breivik möglich wurden.

Die Frankfurter Rundschau merkt an:

In Deutschland warnen „Islamkritiker“ wie Henryk M. Broder, auf den im Manifest verwiesen wird, oder Necla Kelek in drastischen Worten vor der Kapitulation des Westens angesichts der islamischen Bedrohung. Doch eine entscheidende Frage lautete immer: Worauf wollen sie hinaus? Was folgt aus ihrer Kritik? Was soll aus den Muslimen in Europa und ihrem „nicht-reformierbaren Islam“ werden? Breivik hat mit seinem Massenmord eine sehr praktische Antwort gegeben.


Unter der Überschrift Oslo-Attentate als Chance für Thilo Sarrazin schildert Christoph Giesa für den European und N24, dass in den einschlägig bekannten Kreisen nach dem Massaker von Oslo die Propaganda erst richtig hochgefahren wird, sich dem "bewaffneten Widerstand gegen den islamischen Kulturimperialismus" zu verschreiben. Giesa findet:

Genau an dieser Stelle greift nun die Verantwortung derer, die, egal ob gewollt oder nicht, als Sprachrohr dieser Klientel gesehen werden. Diese sind nicht verantwortlich für die Anschläge in Oslo, keine Frage. Wohl aber tragen sie eine besondere Verantwortung dafür, dass in Deutschland wieder Mäßigung an die Stelle von Hass tritt. Zu diesen besonders Verantwortlichen gehören neben Thilo Sarrazin auch prominente Vertreter der Euro- bzw. europakritischen Fraktion, aber auch Publizisten wie Hans-Olaf Henkel oder Henryk M. Broder, weil sie, ob gewollt oder ungewollt, zu Ikonen der neuen deutschen Rechten geworden sind.


Die Promis sind aber nicht die einzigen, die Giesa dazu auffordert, Stellung zu beziehen:

Wer sich in diesen Tagen nicht deutlich gegen jede, aber auch wirklich jede Art von Fundamentalismus stellt, macht sich zum Instrument eines primitiven Hasses, der unsere offene Gesellschaft bedroht und wird spätestens damit selbst zum Problem für diese Gesellschaftsform und in meiner Definition zum "Primitivbürger", der das Gegenteil von aufklärerischen Werten vertritt. Es ist Zeit, sich zu bekennen – unabhängig davon, ob sich das auf die Verkaufszahlen der eigenen Bücher oder die Besucherzahlen bei den eigenen Veranstaltungen auswirkt.


Broders Mitstreiter Hannes Stein kritisierte Broder inzwischen dafür, dass dieser keinen Zusammenhang zwischen Islamkritik und diesem Massenmord erkennen möchte. Im Interview mit der "taz" betont Stein dem unbenommen den Wert der Meinungsfreiheit – bis zu einem bestimmten Punkt:

Flemming Rose von der dänischen Zeitung Jylland Posten hat dazu einmal gesagt: Er möchte, dass die Muslime in Europa integriert werden. Dazu gehört, dass man sich über ihre Religion genauso lustig machen kann wie über, sagen wir, den Katholizismus. Die Muslime haben, so komisch das klingt, ein Recht darauf. (...) Ideen sollen im öffentlichen Raum gegeneinander antreten, auch der Islam in all seinen Spielarten. Ideen brauchen keinen Schutz; Kritik an ihnen, auch erbarmungslose und irrtümliche, ist erlaubt. Mit Menschen ist es etwas anderes. Menschen müssen geschützt werden.


Natürlich gibt es, wie sich in den letzten Tagen zeigte, auch Leute mit komplett unterschiedlicher Auffassung ...

Das NPD-Watchblog vertritt die Ansicht:

Wer nach den offenkundigen rechtsextremen Hintergründen des norwegischen Terroristen fragt, relativiert damit nicht islamistischen Terror. Gerade umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Wem jetzt nichts einfällt als billige Polemik gegen „linke Gutmenschen“, ausgeprägtes Freund-Feind-Denken und die Darstellung von Breivik als unpolitischem, weil offenkundig verrücktem Einzeltäter mit einem individuellen „Spaß am Töten“ (Broder), der verharmlost rechtsextremen Terrorismus. (...) Vielleicht könnten einige Vertreter der „Islamkritik“ sich daher zu der Einsicht durchringen, dass es neben der islamistischen Bedrohung auch noch einen militanten Rechtsextremismus geben könnte, der durch öffentliche Debatten über „Überfremdung“, Gene und Gemüsehändler durchaus bestärkt wird?


Der norwegische Publizist Flemming Nielsen bringt die Debatte in zwei Sätzen auf den Punkt:

Alle bekannten Historiker sind sich einig, dass die antisemitischen Strömungen vor Hitler – und egal für wie demokratisch sie sich hielten – keine Mitverantwortung für den Holocaust von sich weisen können. Wie können die antiislamischen Strömungen – egal für wie demokratisch sie sich halten – eine Mitverantwortung für die aktuelle Situation von sich weisen?


(Herzlichen Dank für die Übersetzung an Arne List.)

Zuletzt die aktuellen Lesermails. Ein Leser schreibt mir:

Noch besser als Alan Poseners Satz "Ideen haben Konsequenzen. Worte haben Folgen. Wer das leugnet, verwirkt den Anspruch, ernst genommen zu werden." gefällt mir der folgende Satz aus dem FDP-Forum: "Breivik und die ultra-rechten violent Talker saßen im selben Boot. Breivik hat dieses Boot durch seine Wahnsinnstat zum Kentern gebracht. Nun versucht die schreibende Zunft, von dieser Tatsache abzulenken, indem sie laut 'Mann über Bord' ruft. Aber das Manöver schlägt fehl."


Eine andere Zuschrift bezieht sich vor allem auf die gestern verlinkten Diskussionen, für deren Fortsetzung mir irgendwann Zeit und Lust komplett abgingen:

Du stehst mit Deiner Position nicht alleine. Ich weiß nicht, wie vielen anderen es wie mir geht, die einfach keinen Nerv mehr haben, sich diese Diskussionen zuzumuten, und deswegen schweigend dem Elend zusehen (es hat durchaus was mit meinem Meiden der Männerforen und auch dem Rückzug von Manndat zu tun – zumindest für den Moment), aber wenn ich vergleiche, was für Debatten es früher gab, wie argumentiert wurde und wer sich nun alles zurückgezogen hat und nirgendwo mehr auftaucht, glaube ich, dass es einige Leute mehr geben muss, die so denken.

Es sollte mehr Leute geben, die dagegen die Stimme erheben (ich will mich da gar nicht mit dem anderen Stress herausreden), aber es ist gut, ein Blog wie Deines zu haben, auch wenn Du mehr und mehr zwischen alle Stühle zu rutschen scheinst - ich sehe das als Zeichen, dass Du Dich standhaft der Vereinnahmung durch die eine oder andere extreme Richtung verweigerst. Ich stimme mit Dir in einigen Punkten definitiv nicht überein, aber es gibt niemanden, den ich in dieser ganzen gegenwärtigen Lage für wichtiger halte als Dich (vielleicht gerade weil Du überall aneckst). Früher gab es mehr gemäßigte Leute, heute gibt es keine Scherze mehr in den Foren, nur noch verbissenen Sarkasmus.

Das Traurige ist, dass ich irgendwie in gewisserweise durch das Männerrechtsthema gebunden bin; aber gleichzeitig zeigen diese Foren, von ein paar wenigen Ausnahmen, mit wem und welchen Ansichten man dann arbeiten müsste. Das funktioniert für mich nicht mehr.


Mails wie diese von Leuten, die sich aus den Internetforen zunehmend zurückgezogen haben, erhalte ich verhältnismäßig oft. Und auch ich mag irgendwann nicht mehr darüber diskutieren, ob man den "Stürmer" wieder zulassen sollte, Sarrazin ein seriöser Wissenschaftler ist und Blogs, in denen Mordphantasien und ethnische Säuberungen propagiert werden, das Tollste überhaupt sind. Irgendwann ist Schluss. Allerdings ist es wohl kaum ein Zufall, wenn es gerade in dieser Woche so irre zugeht. Im Moment erleben viele Menschen, dass sie Leuten zugejubelt haben, deren Ideologie zu einem schrecklichen Massenmord geführt hat. Viele von ihnen versuchen daraufhin, ihre Weltanschauung mit sehr ... interessanten Argumentationen zu retten. Ist man gezwungen, sich darauf einzulassen, nur weil es irgendeiner ins Internet setzt? Ich glaube nicht.

Gesamtpolitisch sehe ich, ähnlich wie nach der Sarrazin-Debatte im letzten Herbst, einen anhaltenden Höheflug der Grünen voraus. So unverhofft, wie jetzt viele Rechte tun, war das Massaker nicht – viele Linke, nicht nur ich, hatten vor genau so etwas gewarnt. Dementsprechend viele Wähler werden zu dem Eindruck gelangen, dass (so wie beim Thema Atomkraft) die Grünen mit ihrem entschiedenen Widerstand gegen die ausländerfeindliche Stimmungsmache schlussendlich Recht behalten haben. Die Mängel der Grünen in der Geschlechterpolitik dürften bei der politischen Bewertung stark ins Hintertreffen geraten.