Ich muss Sie in diesem Tagebuch mal eben mit einem theoretischen Text belästigen. Falls Sie das zu sehr abschreckt: Es kommt darin Sex mit Schweinen vor.
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12 Deutungen zur Motivation überschießender Vorwürfe von Antisemitismus
In diesem bereits früher hier verlinkten
Beitrag aus der „Jungen Freiheit“ wird die Problematik der aktuellen Antisemitismusdebatten in einem einzigen Satz scharf umrissen: „Wenn die Süddeutsche als "Hetzblatt" mit Stürmer und Völkischem Beobachter verglichen und die Bundeszentrale (für politische Aufklärung) als "Hort des Antisemitismus" diffamiert wird, endlich die Washington Post behauptet, der Antisemitismus in Europa entwickele sich zur "zweiten und finalen Phase der 'Endlösung der Judenfrage'", dann offenbart dies Umrisse eines Wahns, der alle konventionellen Verschwörungstheorien sprengt.“
Die zentrale Frage ist hier, woraus sich dieser „Wahn“ speist. Ich möchte gerne einmal verschiedene Deutungsmöglichkeiten auflisten und zur Diskussion stellen.
Variante 1: Es handelt sich um überhaupt keinen Wahn. Die aktuell grassierenden Vorwürfe sind berechtigt, und die „Süddeutsche Zeitung“ ist wirklich so schlimm wie der „Stürmer“, Europa bewegt sich wirklich auf eine neue „Endlösung“ zu und Norbert Blüm ist ein Bruder im Geiste mit Mahmud Ahmadinedschad.
Variante 2: Die (Über-)Sensibilität hinsichtlich Antisemitismus stellt eine ursprünglich sinnvolle Schutzfunktion dar, die gerade Amok läuft. In meinem Buch „Warum Hohmann geht und Friedman bleibt“ zitiere ich etwa die Jüdische Autorin Katja Behrens („Ich bin geblieben – warum? Juden in Deutschland – heute“, Bleicher 2002), worin von dem jungen Jehuda berichtet wird, der zu Beginn des Dritten Reichs als einziger seiner Familie merkte, dass etwas noch viel Bösartigeres an die Stelle der „üblichen Gemeinheiten“ gegen Juden getreten war, woraufhin er vergebens versuchte, seine Verwandten zur Emigration nach Israel zu überreden, schließlich alleine ging und so als einziger seiner Familie überlebte. Solche Schicksale erklären Sätze wie Michel Friedmans „Es kann keine Übersensibilität gegen Antisemitismus geben“. Wenn allerdings die „Süddeutsche Zeitung“ inzwischen schon mit dem „Stürmer“ verglichen wird, kann man sich auch fragen, ob dieser Schutzmechanismus nicht mittlerweile doch in einigen Fällen aus dem Ruder gelaufen ist, etwa wie wenn ein traumatisiertes Vergewaltigungsopfer danach auch vor harmlosen Formen von körperlicher Berührung zurückschreckt.
Variante 3 sieht überbordende Antisemitismus-Vorwürfe als politisches Machtmittel. Man denke hier an den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson, der einem seiner politischen Konkurrenten im Wahlkampf vorgeworfen haben soll, dass er Sex mit Schweinen habe. Als man Johnson später fragte, ob er das wirklich geglaubt habe, soll er geantwortet haben: „Nein, aber mein Konkurrent musste seitdem ständig erklären, dass er an Sex mit Schweinen keinerlei Interesse habe.“ Ähnlich, so könnte man postulieren, läuft die Chose ab, wenn jemand es wagt, die Verbrechen der israelischen Regierung zu thematisieren: Man hängt ihm das Etikett des Antisemiten um den Hals, das dauert fünf Minuten, und der Gute ist damit möglicherweise über Monate oder Jahre beschäftigt. Wollen wir doch mal sehen, ob der noch mal das Maul aufmacht! Oder, wie die „Junge Freiheit“ schreibt: „Das verantwortungslos hysterische Hochschreiben des Antisemitismus geht aufs Konto einer zynischen Mediengesellschaft, wurzelt freilich zudem in handfesten Interessen. Israel ist an der Abwehr von Kritik interessiert, die jüdisch säkulare Diaspora am Zusammenhalt durch Konfrontation und innerdeutsche Eliten am Machterhalt im Generationskonflikt.“
Variante 4: Statt als bewusst angewendtes Machtmittel kann man Antisemitismus-Unterstellungen so wie andere Unterstellungen auch schlicht als eine der Stufen in der
Eskalation von Konflikten betrachten.
Variante 5 knüpft am letzten Punkt des vorhergehenden JF-Zitates an und sieht überbordende Unterstellungen von Antisemitismus, wenn sie von nichtjüdischen Deutschen geäußert werden, vor allem als Entlastungsversuch. So argumentiert Norman Finkelstein auf seiner
Website: „Einige Deutsche der Nachkriegsgeneration hatten zweifellos die Last der Schuld und die damit einhergehenden lähmenden Tabus gegenüber unabhängigem, kritischem Denken aufrichtig angenommen. Heute aber ist die deutsche politische Korrektheit zu einer Farce verkommen, die nur so tut, als ob sie die Bürde, ein Deutscher zu sein, annimmt, obwohl sie sie eigentlich ablehnt. Denn was sonst soll diese endlose öffentliche Selbstgeißelung anderes bedeuten, als die Welt ständig daran zu erinnern, dass `wir nicht wie die sind´.“ Hierbei ginge es also um den missglückten Versuch, eine angebliche Kollektivschuld von sich zu weisen: „Sehr her, obwohl ich ein Deutscher bin, kann ich gar kein Antisemit sein; ich bin nämlich der erste, der bei anderen solche Vorwürfe erhebt.“
Variante 6 wäre, dass bei einer Bedrohung durch Terrorismus häufig jegliches Differenzierungsvermögen verloren geht. So beklagte sich Heinrich Böll in den siebziger Jahren bitter darüber, dass er nicht einmal von den Sozialdemokraten, sondern nur von einigen wenigen linken Liberalen gegen die Sympathisanten-Hetze verteidigt worden sei. In analoger Weise zu damals kann heute offenbar jeder, der mit Muslimen spricht, als „Terroristen-Versteher“ diffamiert werden.
Variante 7 knüpft an dieser Stelle an: Beim fahrlässigen Vorwurf des Antisemitismus würde es sich dann um nichts anderes handeln als um die
Projektion eigener Rassismen auf seine Mitmenschen. Man spaltet die fremdenfeindliche, diffamierende Seite der eigenen Persönlichkeit, die man nicht wahrhaben möchte, bei sich ab und projeziert sie auf andere, setzt sich also nicht mit den eigenen Abwertungen auseinander, sondern unterstellt sie in gewendeter Form dem politischen Gegner. Insbesondere nachdem ich mir einige islamfeindliche Blogs und Zeitschriften wie „konkret“ in den letzten Tagen näher angeschaut habe, scheint mir diese Deutung viel Sinn zu machen. Hier kommt noch dazu eine ungleiche Gewichtung ins Spiel: Während Antisemitismus schon als unbegründeter Vorwurf derzeit _das_ Kainsmal überhaupt darstellt, wird seine Schwester, die Islamophobie und das Ressentiment gegen alles Muslimische, mit einem Schulterzucken abgetan: „Der mag halt keine Moslems, na und? Die sind ja auch wirklich ein bisschen schräg.“
Variante 8 würde statt von einer Projektion von einer
Übertragung ausgehen. Die Kritik, die echte Antisemiten verdient hätten, wird dabei stellvertretend an Menschen ausagiert, denen man Judenhass fälschlich zuschreibt, weil man von ihnen in einer bestimmten Weise getriggert wird.
Variante 9 stammt aus der Transaktionsanalyse, das Stichwort hierzu wäre
Dramadreieck (vgl. auch Eric Bernes „Spiele der Erwachsenenen“). Die Transaktionsanalytiker argumentieren, dass sich in der menschlichen Kommunikation immer wieder unbewusste Strategien abspielen, bei denen beispielsweise ein Mensch die Rolle des „Opfers“ einnimmt, ein zweiter die Rolle des „Retters“ und einem Dritten die Rolle des „Täters“ zugeschrieben wird. (Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von Fällen falscher Unterstellungen, nicht um reale Täterschaft.) Ich halte das in vielen Fällen für eine der sinnvollsten psychologischen Deutungen und würde mich daher nicht wundern, wenn sie nie wieder aufgegriffen wird.
Variante 10 sieht den Antisemitismusvorwurf bei narzisstischen Persönlichkeiten als Schutz des grandiosen Selbst vor jeder Form von Kritik. Während eine Feministin, die Mist baut, Vorwürfe mit dem Slogan abblocken kann: „Das sagen die nur, weil ich eine Frau bin!“, kann ein jüdischer Schmock jegliche innere Auseinandersetzung mit seinem Verhalten umgehen, indem er sich sagt: „Die greifen mich nicht alle an, weil ich als ein arrogantes und feindseliges Arschloch rüberkomme, sondern weil ich ein Jude bin. Da sieht man´s mal wieder, der Antisemitismus ist einfach nicht totzukriegen!“
Variante 11 stellt ebenfalls eine Analogie zur Feminismuskritik dar. Wendy McElroy sagte einmal zur Leidenschaft mancher Feministin, für alles und jedes „das Patriarchat“ verantwortlich zu machen: „Wenn man als einziges Werkzeug einen Hammer hat, erscheint einem nun mal alles, was man entdeckt, wie ein Nagel.“ Insofern ist der Antisemitismusvorwurf die Allround-Rhetorik für Denkfaule, die es sich leicht machen und immer nur dieselbe Melodie zwitschern wollen. Jemand thematisiert die Verbrechen gegen die Palästinenser? Antisemitismus! Jemand empört sich über das Verhalten von Michel Friedman? Antisemitismus! Neue, komplexere Erklärungsmodelle: Fehlanzeige. Warum auch, wenn man mit denselben rhetorischen Floskeln jahrzehntelang problemlos dieselben Artikel ständig wiederkäuen kann?
Variante 12 wäre die religiöse Dimension: Wer „Eretz Israel“ (auch im weiteren Sinne dieser Definition) als ebenso gottgegebenen Auftrag sieht wie die früheren US-Amerikaner das „manifest destiny“, für den ist jeder Kritiker an der Durchführung dieses Auftrags des Teufels.
Vermutlich gibt es noch mehr als diese zwölf denkbaren Motivationen. Welche Motivation nun genau vorliegt, kann sich von Fall zu Fall, von Person zu Person und von Situation zu Situation unterscheiden. Sicherlich können sie sich auch überlappen und nebeneinander bestehen. Als Arbeitshypothese scheinen mir diese Deutungen aber ganz brauchbar zu sein.