Fast ein halbes Jahrhundert lang bestand Geschlechterpolitik (auch) in Deutschland darin, alles zu tun, was für das weibliche Geschlecht von Vorteil war. Das männliche wurde komplett vernachlässigt. Heute wurde mir ein Dokument zugespielt, das darauf hindeutet, dass diese Einseitigkeit ein Ende findet. Das wäre knapp zehn Jahre nach der Veröffentlichung meines Buches
Sind Frauen bessere Menschen?, in dem ich erstmals solche Forderungen aufgestellt hatte, ein entscheidender Schritt nach vorne. Allerdings enthält das Dokument auch Passagen, die mancher Männerrechtler kritisch sehen wird (dazu gleich mehr).
Mir ist dieses Dokument etwas zu umfangreich, um seinen Inhalt hier vollständig zu zitieren, aber interessierte Freunde und Bekannte kennen meine Mailadresse. (In Genderama-Zeiten sind wir ja mit ähnlich brisanten Schriftstücken auf dieselbe Weise verfahren.) Meiner Quelle zufolge soll jedoch ein Artikel über dieses Dokument bereits morgen in der Berliner "tageszeitung" (taz) erscheinen.
Es handelt sich bei dem fraglichen Dokument um einen Antrag, der am 28. September 2010 von den Abgeordneten Michaela Noll und Volker Kauder und der Fraktion der CDU/CSU sowie Miriam Gruß und Birgit Homburger und der Fraktion der FDP eingereicht wurde. Er trägt den Titel "Für eine moderne Gleichstellungspolitik – Perspektiven für Jungen und Männer erweitern".
In den ersten Absätzen dieses Antrages heißt es unter anderem:
Die Anliegen der Gleichstellungspolitik sind, dies zeigen auch die Sinus-Studien, heute weitgehend akzeptiert, von Männern ebenso wie von Frauen. Über einen langen Zeitraum sind die Begriffe Gleichstellungspolitik und Gleichberechtigung allerdings ausschließlich mit Frauen und Mädchen in Verbindung gebracht worden, da das Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern lange Jahre vornehmlich durch frauenpolitische Maßnahmen verfolgt wurde. In dieser Zeit wurden auch große Fortschritte erzielt. Der Beruf des Arztes etwa war früher ein typischer Männerberuf; heute sind 60-70 % der Studienanfänger im Fach Medizin Frauen. Es entstand dabei gelegentlich der Eindruck, Gleichstellung sei ein Anliegen von Frauen für Frauen und tendenziell gegen Männer gerichtet. „Gleichstellung braucht die Männer und Männer brauchen Gleichstellung“, so bereits das Fazit der finnischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2006. Nur wenn Gleichstellungspolitik mit Jungen und Männern weiterentwickelt und der Überwindung männlicher Rollenstereotype Aufmerksamkeit geschenkt wird, werden nachhaltig Forschritte in Richtung eines partnerschaftlichen gleichberechtigten Miteinanders von Jungen und Mädchen, Frauen und Männern erzielt.
Tatsächlich sind in den letzten Jahren auch die Geschlechterrollen von Jungen und Mädchen in Bewegung geraten: Fürsorgliches Verhalten hat an Bedeutung gewonnen, der unmittelbare Lebensraum – Familie, Partnerschaft, Freundschaften – wird wichtiger, gerade auch für Männer. Viele Männer wollen die engen Bahnen aus gesellschaftlichen Zuschreibungen, aus stereotypen Erwartungen und unreflektierten Selbstbildern abstreifen. Während Mädchen über den „Girls’ Day“ an ein neues Berufswahlspektrum herangeführt wurden, fehlten lange Zeit gleiche Ansätze für die Jungen. Diese entscheiden sich noch immer überwiegend für traditionell männliche Berufe wie Kraftfahrzeugmechatroniker oder Industriemechaniker; der Anteil der erziehenden Männer in Kindertageseinrichtungen bzw. in der Tagespflege lag 2007 hingegen bei 3 % bzw. 2,2 %.
Unabhängig davon mangelt es in Gesellschaft und Wirtschaft nach wie vor an Akzeptanz der von vielen jungen Männern angestrebten aktiven Vaterrolle und betrieblicher Unterstützung einer partnerschaftlichen Lebensgestaltung, die eine gute Balance von Beruf, Familie und Fürsorge für Frauen und Männer ermöglicht. Der damit verbundene Mangel an positiven Vorbildern macht eine geschlechtsbezogene Jungenarbeit umso dringlicher.
Aus den Sinus-Milieustudien ergibt sich allerdings auch, dass in vielen gesellschaftlichen Milieus nach wie vor das Rollenbild des Mannes als (Allein-)Ernährer der Familie dominiert – vor allem bei Männern. Auch die Geburt eines Kindes führt häufig zu einer Traditionalisierung der Geschlechterrollen. An dieser Stelle bedarf es neuer Ansätze, wenn die Bildungs- und Entwicklungschancen von Jungen verbessert werden sollen, weil die traditionellen Rollen nicht mehr tragen. Dazu gehört auch, dass neue Tätigkeitsfelder erschlossen werden. Dies gilt u.a. auch für die Bereiche Erziehung und Betreuung in Kitas, Horten und Grundschulen, die heute noch überwiegend von Frauen besetzt sind. Junge Männer bekommen zusätzliche berufliche Perspektiven und sind nicht mehr nur auf die technischen und produktiven Berufe einer industriell geprägten Gesellschaft fixiert, die angesichts der Entwicklung zu einer Dienstleistungsgesellschaft aber mehr und mehr an Bedeutung verliert. Die Einführung des Elterngeldes hat dazu geführt, dass der Anteil der Väter im Jahresdurchschnitt 2009 auf 18,6 % angestiegen ist; im dritten Quartal lag er sogar bei 20,7 %. 73 % der Väter bezogen im Jahr 2009 allerdings nur zwei Monate Elterngeld.
(...) Eine moderne Gleichstellungspolitik muss Mädchen und Jungen, Frauen und Männer gleichermaßen in den Blick nehmen. Es gilt, jetzt die Chancen für eine moderne Gleichstellungspolitik zu ergreifen. Im Koalitionsvertrag wurde daher die Entwicklung einer eigenständigen Jungen- und Männerpolitik vereinbart, bereits bestehende Projekte für Jungen und junge Männer sollen fortgeführt und intensiviert werden, um ihnen auch in erzieherischen und pflegerischen Berufen erweiterte Perspektiven zu eröffnen. Auch soll die Zusammenarbeit mit Väterorganisationen und anderen gleichstellungsorientierten Männerorganisationen intensiviert werden.
Insidern der Geschlechterdebatte ist bereits klar, aus welcher Fraktion der Männerrechtsbewegung hier die stärksten Einwände zu erwarten sind: Der libertäre Flügel, der dafür plädiert, der Staat solle sich aus der Geschlechterfrage als "privater Angelegenheit" so weit wie möglich heraushalten, wird eine "Gleichstellungspolitik jetzt auch für Männer" mit Sicherheit problematisieren. Auch die Fraktion, die erst mal grundsätzlich gerne an allem herummosert, dürfte vielfältige Einwände formulieren. Hier kommen mit Sicherheit noch einige Debatten auf uns zu.
Der Antrag schließt mit folgender (ebenfalls von mir gekürzten) Passage:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
- Studien zu fördern, die untersuchen, wie die typischen Vermittlungsprozesse von Geschlechtsrollen und Handlungsmustern bei Jungen und jungen Männern verlaufen und welche (beeinflussbaren) Faktoren dabei eine Rolle spielen;
- durch Studien die Bedeutung intergenerativer Beziehungen für die Entwicklung und Stabilität männlicher Identität aufzuarbeiten und dabei auch der Frage nachzugehen, welche Bedeutung männliche und weibliche Bezugspersonen in den unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen für die Ausprägung von Geschlechtsrollen und geschlechtsspezifischen Handlungsmustern von Jungen haben;
- gemeinsam mit den Ländern Konzepte und Maßnahmen einer geschlechtsspezifischen Förderung auszubauen und weiterzuentwickeln, die sich an der Interessenlage von Jungen orientieren, indem Angebote zur Berufs- und Lebensplanung wie Berufsorientierung in Schulen, Berufsschulen, Berufsinformationszentren, Jugendzentren u.a. – insbesondere auch in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit – geschlechtsbezogen konzipiert und durchgeführt werden und eine frühe Berufsorientierung durch Kompetenzfeststellungsverfahren, Schülerfirmen oder Praktika weiterzuentwickeln;
- Modelle und Programme aufzulegen, die die Schulabschlüsse von Jungen vor allem aus bildungsfernen Schichten exemplarisch verbessern, ihr Berufswahlspektrum angesichts des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft erweitern, Familienarbeit und Sorgetätigkeiten als wichtige Bestandteile in die Lebensplanung integrieren und den Ausbau und die Entwicklung vorhandener Potenziale und Kompetenzen von Jungen unterstützen;
- Rollenstereotype von Jungen mit Migrationshintergrund differenziert zu untersuchen und mit gezielten Maßnahmen auf mögliche Herausforderungen in dieser Jungen-Gruppe zu reagieren;
- mit gezielten Maßnahmen und Instrumenten anzuregen, dass Jungenarbeit die geschlechtstypischen Aspekte der Lebenslage von Jungen und ihre individuelle und soziale Differenziertheit berücksichtigt;
- darauf hinzuwirken, dass in der Ausgestaltung der unterschiedlichen Programme und Modelle aller relevanten Politikbereiche geschlechtsbezogene Zugänge und Konzepte für Jungen berücksichtigt werden, die sich nicht nur auf die Berufs- und Lebensplanung, sondern auch auf die Erweiterung sozialer Kompetenzen und die Reflexion von Geschlecht und männlichen Rollenbildern beziehen;
- bei den Ländern über die Initiative „MEHR Männer in Kitas“ hinaus darauf zu wirken, dass unter Einbeziehung der Ergebnisse und Handlungsempfehlungen des Forschungsprojektes „Männer in der Ausbildung zum Erzieher und in Kindertagesstätten“ effektive Maßnahmen ergriffen werden, um den Anteil von Männern in Bildung und Betreuung in Kindertagesstätten und Grundschulen zu erhöhen und zu prüfen, wie pädagogische Berufe etwa mit Blick auf Weiterqualifizierungen und die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Berufen attraktiver ausgestaltet werden können;
- unter Einbeziehung von Forschungsergebnissen gemeinsam mit den Bundesländern Qualifizierungsmöglichkeiten für Erzieherinnen und Erzieher mit Blick auf die interkulturelle Kompetenz sowie die Väterarbeit zu erarbeiten;
- gemeinsam mit den Bundesländern vorhandene Strukturen insbesondere im Bildungsbereich dahingehend zu überprüfen, ob sie den tatsächlichen Bedürfnissen von Mädchen und Jungen gleichermaßen gerecht werden, und zu prüfen, wie Schulorganisation und Unterrichtsformen so ausgestaltet werden können, dass sie auch für Jungen attraktiv sind;
- sich für familien- und kinderfreundliche Rahmenbedingungen durch eine familien- und auch väterfreundliche Kultur sowie eine familiengerechte Arbeitswelt einzusetzen, die eine Entscheidung für Kinder durch echte Wahlfreiheit ermöglicht, und verstärkt für familienfreundliche und flexible Arbeitszeitmodelle und sog. „Sabbaticals“ zu werben;
- § 16 des Bundesgleichstellungsgesetzes dahingehend zu ändern, dass es sowohl Frauen als auch Männern offensteht, die Funktion einer oder eines Gleichstellungsbeauftragten wahrzunehmen.
Positionen, für die ich noch vor wenigen Jahren von der feministischen Fraktion massiv gemobbt worden bin – bis hin zu dem Versuch, meine berufliche Existenz zu zerstören –, sind damit zumindest grundsätzlich in den großen Bundestagsparteien angekommen. Sicher: Viele Themenfelder fehlen noch (häusliche Gewalt gegen Männer, die unter Männern weitaus höhere Rate von Selbstmorden und Obdachlosigkeit usw.) Aber vor allem die Felder, die ich in meinem aktuellsten männerpolitischen Buch
Rettet unsere Söhne als besonders wichtig benannt habe, werden in dem vorliegenden Antrag thematisiert. Darauf kann weitere konstruktive Männerpolitik aufbauen.